Klassische E-Gitarre und Verstärker
Perfekt unperfekt
Vor kurzem stolperte ich in der digitalen Welt über eine Werbung, die mich über das Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Umwelt nachdenken liess. Diese pries eine Kaffeemaschine an, welche in der Lage war, die Temperatur genau zu halten und auf Wunsch zu variieren. Dazu muss man wissen, dass die Brühtemperatur und die Konstanz dabei essenziell sind, um einen ausgezeichneten Kaffee zu machen. Die so genannte Brühkurve, also der Temperaturverlauf beim Kaffee, bestimmt den Charakter des Kaffees zusammen mit den Bohnen. Teure Kaffeemaschinen zeichneten sich durch ihre besondere Temperaturkonstanz aus. Diese Konstanz wurde vor allem durch Masse erreicht. Deshalb schmeckt der italienische Espresso aus einer grossen Kaffeemaschine, welche die halbe Theke bedeckt, so wunderbar. Aber auch die teuren und schweren Maschinen haben ihre kleinen Abweichungen.
Nun ist die Technik so weit fortgeschritten, dass solche Ergebnisse auch im kleinen erreicht werden können, und zwar genauer, als die grossen Maschinen und auch zu einem Bruchteil des Preises. Aber nicht nur das; Mithilfe einer digitalen Steuerung kann die kleine neue Kaffeemaschine ihre grossen und teuren Vorfahren nachahmen. Jetzt kann man sich fragen, warum man eine legendäre Kaffeemaschine nachmachen soll. Der Grund dafür liegt im Charakter, der eine Kaffeemaschine zur Legende werden liess.
Ein ähnliches Phänomen gibt es seit einigen Jahren im Bereich von elektrischen Gitarren. Es gibt mittlerweile kleine Geräte, die ich an meine elektrische Gitarre anschliessen und mir dabei jeden legendären Gitarrenverstärker, den ich mir wünsche, nachahmen kann. Ich kann also genau den Sound kreieren, welcher die Lieblingsrockband aus den 1970er Jahren auf einem ganz bestimmten Album erzeugt hat.
Das ist beeindruckend. Damit ist es möglich, Gitarrenverstärker, welche unter Sammlern heiss begehrt sind, günstig in der eigenen Hosentasche zu haben. Auch hier geht es um den Charakter.
Neben dieser beeindruckenden Leistungen dieser kleine digitalen Maschinen, sollten uns diese Möglichkeiten auch nachdenklich machen. Was machen wir da eigentlich, wenn wir legendäre Geräte digital nachbilden?
Wir bilden mit unserer digitalen Perfektion den Charakter dieser Geräte nach. Wobei der Charakter genau darin besteht, dass er nicht perfekt ist. Wenn alle Gitarrenverstärker aus den 1970er Jahren perfekt gewesen wären, dann hätten alle gleich geklungen. Es ist gerade das Nicht-Perfekte, die kleinen Abweichungen, die ein solches Gerät perfekt machten. Dieses kleine bisschen imperfekt sein, war das Rezept, um legendär zu werden.
Das ist ein interessantes Phänomen. Obwohl wir die Möglichkeit haben, alles perfekt zu machen, ahmen wir das Unperfekte nach. Das Nicht-ganz- Perfekte scheint uns irgendwie besser zu gefallen. Es scheint, als das ein nicht perfekter Charakter viel wichtiger ist, als die totale Perfektion.
Diese Tatsache sollte uns inspirieren, über uns selbst und unser Miteinander nachzudenken. Dass wir nämlich das Unperfekte in uns selbst und in anderen als einen willkommenen Charakterzug erkennen sollten. Dass wir mit dem Unperfekten, in uns und in den anderen liebevoll umgehen und es schätzen lernen.
Das heisst nicht, dass wir schlechte Charakterzüge idealisieren und hinnehmen müssen. Aber ich bin davon überzeugt, dass das Leben eine bessere Qualität hat, wenn es uns gelingt, besondere Charaktereigenschaften von anderen Menschen und unsere eigenen zu würdigen, ja vielleicht sogar geniessen sollten, wie wenn wir einen gute italienischen Espresso oder eine Schallplatte von unserer Lieblingsrockband geniessen.
Pfarrer Stephan Krauer