Sommergedanken
Kennen Sie den Steg von Rapperswil nach Hurden? Der Weg führt über den See durch ein Naturschutzgebiet. Das Wasser ist meist klar und ich geniesse den Anblick der unzähligen Muscheln auf dem Grund: Geschlossene und offene, lange verwitterte und einige glänzende ‒ mit dem wunderschönen Perlmutt. Als Kind war ich mit meinen Eltern am Meer, war fasziniert von der Weite der Ozeane und sammelte eifrig die unterschiedlichsten Muscheln.
Während ich mich auf eine Bank setze, schweifen meine Gedanken zurück: Vor meinem inneren Auge, sehe ich die Natur, das Meer, die Wellen, wie sie kommen und gehen, mal gross, mal nur leicht gekräuselt. Ich weiss, die Wellen kommen von weit her. Irgendwo im weiten Ozean weht ein Wind, er bewegt das Wasser, die Welle pflanzt sich fort bis an die Küste, an der ich jetzt gerade sitze. Wer sich am Meer aufhält, lässt sich einfangen von der ganz besonderen Atmosphäre. Besonders sind auch die Muscheln am Strand, in den Tiefen der Ozeane oder auf dem Grund des Obersees. Haben Sie vielleicht sogar eine zu Hause? Sind Sie auch, so wie ich, jedes Mal versucht, eine Muschel ans Ohr zu halten? Es wurde mir als Kind erzählt, dass man in den Muscheln das Rauschen des Meeres hören könne. Als Erwachsene lernte ich dann, dass es das Zirkulieren des Blutes sei… und mir nicht die Weite des Meeres eine Geschichte erzählt. Und doch sind die Muscheln faszinierend geblieben. Keine ist genau gleich wie die andere. Jede hat ihr eigenes Aussehen, ihr eigenes Profil – genauso wie die Menschen, die sie finden und bestaunen.
Wie die Muscheln vom Wasser an den Strand gespült wurden, so kommen Menschen aus den unterschiedlichsten Orten der Welt zusammen und haben teilweise einen langen Lebensweg hinter sich. Auf diesem Weg haben sie die eine oder andere Macke abbekommen, genau wie eine Muschel. Hat das Leben nicht auch uns gezeichnet, wie das Wasser die Muscheln? Haben Sie nicht auch manche Lebensstürme überstanden?
Muscheln sind aussen oft rau, weil sie einen weichen Kern verbergen und schützen wollen – wie auch so mancher Mensch. Einiges hat uns verletzt, manches hat uns hart gemacht, an einigen Stellen sind wir wie versteinert durch Enttäuschungen, durch schmerzhafte Erinnerungen. Manchmal ist auch ein Stück von der Muschel abgebrochen. Eine Lücke ist entstanden, die sich nicht mehr geschlossen hat. Auch wir mussten vielleicht schon einmal von jemandem Abschied nehmen, ohne dass sich die entstandene Lücke je wieder schliessen konnte. Auf der Innenseite der Muschel gibt es eine geschützte Vertiefung: das ist das Herzstück. Dort ist Platz für all das, was uns wichtig ist, was uns im Leben gutgetan hat und immer noch guttut. Schöne Erinnerungen, Freundlichkeit, die wir erfahren haben, Liebe, die uns geschenkt wurde. Das alles hat seinen ganz besonderen Platz, den wir hüten wie eine Perle und davon zehren wir.
Vielleicht finden Sie in diesem Sommer eine Muschel und tragen sie ein bisschen mit sich mit? Es muss ja nicht gleich eine vom Meer sein, am Ufer unserer Seen werden Sie auch fündig…
Seien Sie behütet in diesen Sommerwochen!
Herzlich, Cindy Gehrig