Trost – ein Mysterium
Wenn die Tage kürzer werden, die Bäume ihr gelbes Laub verloren haben und das Kirchenjahr sich dem Ende zuneigt, denken wir als Gemeinschaft an all jene, die uns im vergangenen Jahr verlassen haben. Diese Erinnerung soll uns auf den Weg der Trauer begleiten und uns auch ein Trost sein.
Der Trost ist in der modernen Gesellschaft unpopulär geworden. Er passt nicht zum Subjekt, das alles im Griff hat und für alles verantwortlich ist. Die Ohnmacht hat keinen Platz in einer Welt, die vom freien Willen bestimmt ist. Trostbedürftig zu sein, ist peinlich geworden und mit Scham behaftet.
Aber am schlechten Ruf des Trostes sind nicht zuletzt auch die Kirchen selbst schuld. Über Jahrhunderte haben sie die Gläubigen auf ein Jenseits «vertröstet» und dabei Missbrauch und Ausbeutung relativiert.
Aber auch wenn Trost gut gemeint ist, kann er peinlich werden. Dann nämlich, wenn er in einem «Es-wird-schon-gut» billig daherkommt oder wenn er des Guten zu viel ist. Der deutsche Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll nannte das «fürsorgliche Belagerung». Diese Situationen sind daher peinlich, weil der Tröstende im Grunde sich selbst zu trösten versucht. Weil er nicht in der Lage ist, die Ohnmacht und Hilflosigkeit auszuhalten. Eine solche Form des Trostes lässt den Trauernden nicht atmen. Sie nimmt dem Trost die Kraft.
Denn Trauer benötigt Raum zum Atmen. Das ist das Mysterium des Trostes. Mir hat einmal eine Gottesdienstbesucherin nach einem Ewigkeitssonntag gesagt: «Traurig sein tröstet doch auch?»
Damit hat sie etwas Wichtiges angesprochen und bringt auf den Punkt, was der Talmud über den Trauerprozess lehrt. Der Talmud ist neben dem Alten Testament das wichtigste Buch in der jüdischen Tradition. Darin sind Diskussionen zur Auslegung des Alten Testamentes beschrieben. Eben darin findet sich der Satz, der zunächst irritierend ist: «Tröstet den Trauernden nicht, solange noch ein Verstorbener vor ihm liegt.»
Soll man sich denn nicht um Mitmenschen kümmern, die traurig sind? Der Satz aus dem Tal setzt sich dafür ein, dass der Traum des seinen Raum hat, um traurig zu sein. Das meine ich mit dem Mysterium des Trostes. Wenn wir uns erlauben, traurig zu sein, ermöglichen wir der Trauer, geringer zu werden. Dann erlauben wir den «Selbstheilungskräften der Trauer», aktiv zu sein.
Ich beschreibe das oft wie ein Meer voller Tränen, das einem im ersten Moment unendlich erscheint. Gibt man sich aber den Raum, um diese Trauer zu spüren, stellt man mit der Zeit fest, dass ich dieses Meer von Tränen in einen See verwandelt. Plötzlich ist da ein neuer Horizont aufgetaucht. Und mit den Jahren kann aus diesem See der Trauer ein kleines Bächlein werden, an dessen Ufern neue Blumen wachsen, die uns an die vermisste Person erinnern.
Diesen Raum der Trauer müssen wir als Trauernde und als tröstende Gleichenmassen respektieren. Als Trauernde können wir das weder forcieren noch ausblenden. Vielmehr müssen wir immer wieder spüren, wie viel Aufmerksamkeit und Trauer im Moment benötigt werden.
Das gleiche gilt, wenn wir jemanden trösten. Wenn wir den Trauernden den nötigen Raum geben, dann ist unser Trost eine Gabe. Es ist die Anteilnahme, die wir den Trauernden schenken. Und es ist diese Anteilnahme, die den Trauernden neue Kraft gibt, um traurig zu sein.
Pfarrer Stephan Krauer
